Liebe Leserinnen und Leser
Es gibt Zufälle, die das Leben verändern – oder die dazu führen, dass ein Roman entsteht. Im Sommer 2004 erzählte mir ein Freund von einem Artikel, den er in der „Herald Tribune“ gelesen hatte, in einer Rubrik, die „Vor 100 Jahren“ hieß. Darin war die Rede von einer Dame in einem atemberaubenden weißen Abendkleid, die im Sommer 1904 an Bord des Ozeandampfers „Kroonland“ entdeckt wurde, der von Antwerpen nach New York unterwegs war.
Die Dame hatte weder Gepäck noch Geld bei sich und konnte nur unzureichend erklären, wie sie auf das Schiff gekommen war. In Ellis Island verweigerte man ihr die Einreise, sie wurde auf dem gleichen Schiff zurückgeschickt, mit dem sie gekommen war.
Ich begann, über diese rätselhafte Frau nachzudenken. Welche Geschichte hätte sie haben können? Musste sie nicht jedermanns Phantasie anregen? War sie nicht mit ihrem weißen Kleid wie eine weiße Leinwand, auf die wir unsere eigenen Wünsche und Ängste, Vorurteile und Hoffnungen projizieren? In Wirklichkeit hat die „Dame in Weiß“ ihre Geschichte mit ins Grab genommen, ich habe ihren Namen in den Akten von Ellis Island zwar gefunden, aber nichts über ihr weiteres Schicksal. In meinem Roman gebe ich ihr eine Geschichte, aber auch hier sollte sie solange wie möglich ihr Geheimnis wahren – und damit die Phantasie der Leserinnen beflügeln und in Spannung halten.
Die Überfahrt nach Amerika war damals für Hunderttausende Aufbruch in ein neues Leben. In der Zeit, in der der Roman spielt, wurden in Ellis Island bis zu 5000 Immigranten pro Tag abgefertigt, die in Amerika eine neue Heimat suchten.
Das Bild der Überfahrt, der Seeüberquerung hat aber auch eine symbolische Bedeutung. In jedem Leben gibt es diese Zeit des „Dazwischen“, Zeiten des Übergangs, in denen wir von Dingen, Menschen, Vorstellungen, Träumen Abschied nehmen und Neues wagen müssen. Wo wir alte Ufer zurücklassen und neue erreichen. Wir können uns selbst dabei aber nicht einfach am Kai stehen lassen wie ein unliebsames Gepäckstück. Das erleben die Figuren in meinem Roman. Sie alle begegnen auf dieser Überfahrt sich selbst, ihren Wünschen, ihrer Schuld, ihrer Unfreiheit und Sehnsucht. Schritt für Schritt treten sie aus ihrem scheinbar unabänderlichen Schicksal heraus und entdecken – allen voran natürlich die geheimnisvolle Dame in Weiß – die befreiende Kraft der Liebe.
Und darin finden wir auch hundert Jahre später hoffentlich uns selber wieder.
Ihre Dörthe Binkert